SoSe2010 „Geschichte der Strafe in Afrika: Bis hierher haben wir uns in dem Seminar vorallem mit Strafen des Staates (vor allem des Kolonialstaates) gegen seine Bürger beschäftigt. Nun in den letzten Sitzungen wenden wir uns Strafen zu, die nicht direkt vom Staat ausgehen (was natürlich nicht heißt, dass es keinen Zusammenhang gibt). Zu erst befassten wir uns mit Strafen in der Familie und der Frage, warum scheint körperliche Strafe in einigen Gesellschaften angemessen und in anderen nicht.
Strafe, also die Sanktion eines bestimmten Verhaltens, wird nicht allein durch den Staat und seine Institutionen ausgeübt. Oftmals erleben Kinder ein ganzes Spektrum von Strafen innerhalb ihren Familien, im weiteren Sinne, oder Schulen im Zuge ihrer Erziehung. Murray Last, Professor mit Schwerpunkten auf vorkolonialer Geschichte von islamischen und nicht-islamischen Gesellschaften im nördlichen Nigeria und Jugendkultur im urbanen Kano, beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Children and the Experience of Violence: Contrasting Cultures of Punishment in Northern Nigeria“ aus dem Jahr 2000 mit körperlicher Strafe gegen Kinder im nördlichen Nigeria. Dabei untersucht er die Fragestellung, wie es in einer Gesellschaft zu einer sehr unterschiedlichen Einschätzung und Handhabung von körperlicher Strafe kommen kann.
Der zweite betrachtete Text ist ein Ausschnitt eines Berichtes der Vereinten Nationen verfasst von Paulo Sergio Pinheiro, einem brasilianischen Diplomaten und Rechtswissenschaftler. Der Bericht fasst verschiedene Studien zu Gewalt gegen Kinder zusammen und möchte somit einen Überblick über die Thematik und Relevanz präsentieren.
Murray stellt in seinem Aufsatz einen vollkommen unterschiedlichen Umgang mit körperlicher Bestrafung von Kindern in nicht-muslimischen und muslimischen Gruppen im Norden Nigerias fest. Ist in der muslimischen Bevölkerung körperliche Bestrafung ein elementarer Bestandteil von Erziehungsmethoden, wird diese in der nicht-muslimischen Bevölkerung abgelehnt.
Murray erklärt diesen Unterschied wie folgt: Die nicht-muslimische Bevölkerung, die er betrachtet, lebt ländlich und von der Landwirtschaft. Sie ist von jeder Arbeitskraft abhängig, mit dem gewaltloseren Umgang sollen nicht nur Kinder und Frauen gebunden werden, sondern auch Menschen von außerhalb angezogen werden. Auf einer anderen Ebene reflektiert nach Murray die Ablehnung von Gewalt die Anerkennung des Faktes, dass diese Bevölkerungsgruppe weitgehend machtlos ist. Als Strafform werden stattdessen verbale Formen gewählt. Murray argumentiert, dass dieser Umgang mit Gewalt nur in relativ abgelegenen, ländlichen Gegenden sozial und ökonomisch sinnvoll scheint.
Als Gegensatz portraitiert Murray eine urbane muslimische Gesellschaft, in welcher körperliche Strafe anerkannt und wichtig ist. Als einen der Gründe nennt er ein starkes Bewusstsein über Status. Körperliche Strafe ist auch an ein gewisses Verständnis von „Besitz“ gekoppelt, das Kind „gehört“ den strafenden Erwachsenen. Die Kontrolle, die über körperliche Strafe, erlangt werden soll, ist nicht nur Strafe sondern geht einher mit der Konnotation von Disziplinierung. Als einen externen (außerhalb der Familie) Ort, an dem Kinder diese Disziplinierung erfahren, beschreibt Murray die islamischen Schulen. In seiner Conclusio geht er darüber hinaus auf den kolonialen Einfluss ein, welcher mit der Implementierung eines Schulsystems, in welchem körperliche Strafen ebenfalls genutzt wurden, auch zur Anerkennung von Gewalt beitrug.
Der Bericht von Pinheiro beleuchtet weniger die Ursachen, sondern gibt – soweit es Quellenlagen zulassen – einen Stand über das Ausmaß und die Formen von Gewalt gegen Kinder. Der Bericht ist in erster Linie ein politisches Dokument. Er befasst sich nicht direkt mit der Bestrafung von Kindern. Nicht jede Form von Gewalt ist im direkten Sinn eine Bestrafung des Kindes, aber viele Formen der Bestrafung können als Gewalt angesehen werden und tauchen somit im Bericht auf. Kritisch ist hier zu hinterfragen, was für Studien als Beispiel herangezogen werden, wie diese durchgeführt wurden und ob sie überhaupt – wie in dem Bericht geschehen – vergleichbar sind. Dies wird aus dem vorliegenden Text nicht ersichtlich.
Aber auch der Text von Murray lässt einige Frage offen oder erscheint zum Teil zweifelhaft. In seinem Vergleich greift Murray auf Daten zurück die er, wie er selbst erläutert, „nebenher“ gesammelt hat. Dabei bleibt auch die Frage, ob eine starke persönliche Bindung Murrays an die betrachteten Gruppen, seine Sicht eher verklärte oder besonders guten Zugang gewährte. Schwierig ist in jedem Fall, dass er bei der Diskussion der nicht-muslimischen Bevölkerung auf Beobachtung aus den 1970ern und bei der muslimischen Bevölkerung aus den 1990ern zurück greift.
Literatur
Last, Murray. 2000. „Children and the Experience of Violence: Contrasting Cultures of Punishment in Northern Nigeria“, in: Africa, Vol. 70, Nr.3, S. 359-393.
Pinheiro, Paulo Sergio/ United Nations. 2006. World Report on Violence against Children. UN: Genf, S. 47-61.
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